Wilde Streiks

Der heiße Herbst 1969

Buch und Regie Ute Bönnen und Gerald Endres
Kamera Thomas Walther
Schnitt Christopher Kaps
Redaktion Christian Deick
Produktion doc.station
Länge 45 min

Der Film auf youtube

"Das Unbegreifliche geschah: Deutsche Arbeiter streikten ohne Genehmigung" - Mit diesem Satz beginnt der Inlandsteil des Spiegel am 15. September 1969. Der erste Streik bricht am 2. September bei Hoesch in Dortmund aus. 3000 Arbeiter der Frühschicht in der Westfalenhütte marschieren zu Hauptverwaltung des Kon-zerns, Hunderte dringen in die Flure ein und trommeln mit ihren Schutzhelmen gegen das Treppengeländer. Am folgenden Tag schließen sich die 20 000 Arbeiter der Hütten Phönix und Union dem wilden Streik an, dann springt der Ausstand auf Rheinstahl, Mannesmann und einen Teil der Ruhrbergwerke über. Schließlich streiken Stahlwerker und Bergarbeiter auch in Bremen, Osnabrück und Kiel, im Saarland und in der Oberpfalz. Werke werden faktisch besetzt, Konzernleitungen müssen in Hotels tagen. Zum Schlag ins Gesicht werden die wilden Streiks auch für die Gewerkschaftsführer. In Dortmund versucht der Bezirksleiter der IG Bergbau stundenlang, die Kumpel der Zeche "Minister Stein" zur Arbeit zu bewegen. Er wird niedergebrüllt., "Schlafmützen" ist noch das feinste, was die Gewerkschafter zu hören bekommen. Das eingespielte und arbeitsrechtlich bis ins kleinste Detail geregelte Ritual der Ta-rifauseinandersetzungen wird einfach übergangen.

Die Bonner Politik ist konsterniert. Das Ganze passiert auch noch unmittelbar vor den Bundestagswahlen. CDU und SPD geben die Parole aus, sich nicht direkt gegen die Streikenden zu äußern. In der SPD geht die Angst um, der unerwartete Ausbruch von Klassenkampf könnte schwankende bürgerliche Wähler zurück zur Union treiben.

Es ist kein Zufall, dass die Streiks in der Stahlindustrie und bei Hoesch beginnen. Die Branche war in der - aus heutiger Sicht geringfügigen - Konjunkturkrise von 1966 recht heftig gebeutelt worden, noch 1968 ließ sich die IG Metall, um Arbeitsplätze zu retten, auf sehr mäßige Lohnsteigerungen mit langer Laufzeit ein, und das, obwohl sich der Boom beim Stahl und im Gefolge auch beim Bergbau schon abzeichnete. Kurz darauf explodieren die Gewinne, doch die Arbeiter haben nichts davon, die Gewerkschaften unterliegen der tarifvertraglichen Friedenspflicht. Die Hoesch-Arbeiter sind noch schlechter dran als ihre Kollegen bei andern Konzernen, denn die Zusammenlegung mehrerer Hütten hat intern zu einem Wirrwarr unterschiedlicher Entlohnungen geführt. Seit drei Jahren hintertreibt die Konzernleitung eine Vereinheitlichung und Anpassung der Löhne an den Stand der Branche.

Für die Streikenden ist es eine völlig neue Erfahrung, sich derart direkt um die eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Statt der hauptamtlichen Arbeitnehmervertreter führen von den Belegschaften gewählte Sprecher die Verhandlungen. Die Gewerk-schaftsfunktionäre werden gerade mal an der Absegnung der Ergebnisse beteiligt. Die Forderungen der Streikenden sind sehr konkret, und bei Hoesch werden sie schon nach wenigen Tagen vom überrumpelten Firmenvorstand vollständig bewilligt: 11 Prozent Lohnerhöhung, keine Anrechnung dieser Erhöhung bei künftigen Lohnrunden, keine Abzüge für die Streiktage. Woanders kommt der Streik erst in Gang, da singen die Hoesch-Arbeiter schon "so ein Tag, so wunderschön wie heute" - und ziehen nach Hause. Die Arbeitergeber machen fast überall sehr schnell große Zugeständnisse. Auch Firmen, die gar nicht bestreikt werden, zum Beispiel VW, verkünden von sich aus Lohnerhöhungen, um ein Überspringen des Funkens zu vermeiden. Und kaum kehrt in der Stahlindustrie und im Bergbau allmählich wieder Ruhe ein, da treten Müllwerker und Beschäftigte im öffentlichen Nahverkehr in wilde Streiks.

Für die Beteiligten ist das spontane Aufbegehren ein einschneidendes Erlebnis. Dortmund ist für eine kurze Zeit in einem Ausnahmezustand, der durchaus auch euphorische Züge trägt. Die Erfahrung der eigenen Macht wirkt noch einige Jahre nach.

Entgegen schnell auftauchenden Befürchtungen (und Hoffnungen) ist der spontane arbeitskampf nicht mit einer politischen Radikalisiserung verbunden. Abgesandte der APO und Kamerateams aus der DDR werden umgehend wieder vertrieben.

Dennoch verschärft sich das politische Klima. Die FAZ sorgt für ein unschönes kleines Nachspiel mit der Behauptung, die Streikenden hätten versucht, die Privatvilla des Vorstandsvorsitzenden von Hoesch zu stürmen, und wären von dessen Frau mit der Pistole in der Hand vertrieben worden. An dieser groß herausgebrachten Tatarenmeldung ist kein Wort war, wie die FAZ später zugeben wird, aber am nächsten Tag steht sie auch in der Bildzeitung, und Fritz Berg, Präsident des Bun-desverbands der deutschen Industrie, setzt noch eins drauf, indem er verkündet: "Die hätte doch ruhig schießen sollen, einen totschießen, dann herrschte wenigstens wieder Ordnung."

In den folgenden Jahren wird in der Lohnpolitik die Angst vor einem neuen, unkontrollierbaren Ausbruch immer präsent sein, Betriebsräte und Gewerkschaftsführer müssen zu Kenntnis nehmen, dass ihre Klientel nur ein begrenztes Maß an Sozial-partnerschaft mit den Vorstandsetagen akzeptiert.